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Textarchiv der Berliner Zeitung

Listenreiche Galeristen

Die wechselvolle Geschichte einer Ostberliner Galerie in Fotos und Texten

Astrid Volpert

Gegenwartskunst ist heute vorwiegend ereignisorientiert und danach meist schnell wieder vergessen. Zu Recht. Welchen Wert hat da eine Sammlung von Vernissage-Reden, Vorträgen, Rezensionen, die Jahre zurückliegen? Im günstigsten Fall kann solche Überschau zum spannenden Lesestoff werden.

Zuerst editierte die Galerie Mitte ihre Ausstellungsgeschichte von 1978 bis 1991. Und nun vollzieht auch Longest F. Stein, Mitarbeiter der Galerie im Treptower Kreiskulturhaus, den "Sehtest" für eine Unternehmung, die sich mit Künstlern und Konzepten edler Berliner Malkultur an den Rändern traditioneller Kunstform profilierte.

Die Galerie im Treptower Kreiskulturhaus, die 1991 ins Studio der Bildenden Kunst Baumschulenweg zog, wühlte mit Erfolg in den Niederungen der Kommunikations- und Jugendkultur der DDR der 80er Jahre. In der zweiten Hälfte der 80er stellte sie die immer interessanter werdende Fotografie in ihr Zentrum - zu einem Zeitpunkt, als die Frage nach deren Kunstfunktion verstärkt aufkam. Wolfgang Kil, dessen Texte zum anregendsten Denkstoff des Bandes zählen, nannte es den "Zuwachs an Subjektivem, mit der erlebte Wirklichkeit immer mehr Interpretation im Kopf erfuhr". Der Leser kann diese Entwicklung auch im umfangreichen, gut konzipierten Bildteil nachvollziehen. Viele Arbeiten vermitteln sehr direkt und drastisch etwas vom Aufbruch über die sanfte Revolte bis zur Resignation der Künstler und Bürger.

Longest F. Stein verstand seine Galerietätigkeit, in die er 1983 einstieg, als Forschungsarbeit. Ein Vermittler zwischen Produzenten und Rezipienten. In "bleiernder Zeit" gelang ihm, "Träumer" wie Kämpfer" zu versammeln. Er präsentierte berichtende Fotografie neben Bildern irrationaler Inszenierungen. Tina Bara, Kurt Buchwald, Florian Merkel, York der Knöfel erschienen in ersten Ausstellungen. Die meisten wurden von kleinen und größeren Skandalen der Ostberliner Kulturbürokratie begleitet: Joseph W. Hubers Ausstellung 1984 wurde vor Eröffnung geschlossen, Gundula Schulzes Auftritt peinlich genau von den wachsam besorgten Organen protokolliert. Ärgerliche Behinderungen.

Trotzdem fanden, dank umtriebiger List des Galeristen, geplante Aktionen statt. Als es Klebeverbot für Susanne Müllers Plakat mit ihrem Foto einer Geburt gab, verteilte man die scheinbar anstößige Werbung in Mütterberatungsstellen und Arztpraxen. So sorgte man für Publikum. Ähnliches trifft auf die Vielzahl und Vielfalt der organisierten Veranstaltungen zu: Musik, Vorträge, Lesungen. Oftmals wurde das Thema im Auftrag der Galerie erarbeitet.

Fragmentarische Spurensicherung nennen Herausgeber bzw. Redakteurin beider Kompendien ihr Resultat. Diese Humusarbeit ist unschätzbar. Selbst wenn Kulturämter heute auf die frühe Renitenz ihrer Galerien stolz sind, ist es nicht einfach, dafür eine Lobby zu finden. Was Longest F. Stein und Gabriele Kukla von engagierten Kollegen anderer ehrgeiziger und teurer Projekte

unterscheidet: Als Zeugen bzw. Protagonisten der dokumentierten Vorgänge bleiben sie in bezug auf deren Interpretationen zurückhaltend. Bis auf die Vorworte und einige Fußnoten vertrauten sie den Fakten wie dem Urteilsvermögen ihrer Leser.

Zudem: Was andere heute spektakulär nennen, hielten sie damals schon für normal. Ihre Kriterien für Galeriearbeit erwiesen sich auch in Umbruchzeiten als überlebensfähiges Fundament. Vielleicht mag das ein Grund sein, weshalb beide kommunale Galerien trotz Schwierigkeiten vielfältiger Art ihr Publikum auch jetzt in Scharen in jede neue Ausstellung locken.Astrid Volpert

"Sehtest. Material zur Geschichte einer Galerie", c/o Kunstfoerderverein Treptow e.V., Tel: 030 – 420 81 755. "Ein Kompendium von 1978 bis 1991", Galerie Mitte, erhältlich Singerstr. 1. +++

 

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